Nun... ich habe im privaten Umfeld zuletzt auch immer wieder gehört, der deutsche Beitrag wäre doch "gar nicht soo schlecht". Man könnte antworten, daß er daher ja auch *doppelt* so viele Punkte bekam, gegenüber 2021. Und das ist ja dann "gar nicht soo schlecht"...
Aber ist eigentlich schon mal jemanden aufgefallen, daß dieses "Lied" keinerlei Melodie hat? Der gesamte Beitrag hat musikalisch exakt drei Töne, eine (durchaus wohlklingende) Terz, schätze ich mal. Da gibt es sechs Möglichkeiten, die drei Töne anzuordnen, und eine davon hat er 3 Minuten lang wiederholt. Die Variante "hoch, runter". So wie das Jingle-Logo von der Telekom "dadada-di-daa". Gut, damit hatte sein Lied einen Ton mehr als das Telekom-Jingle, und das ist ja dann schon mal "gar nicht soo schlecht"...
Also das ist jetzt vielleicht ein verrückter Gedanke, aber bei einem Song-Contest, der sich "Song"-Contest nennt, vielleicht wäre es ja mal eine Idee - nur mal so ins Blaue - man könnte ja vielleicht, eventuell, also so mal als Versuch jetzt... mit einem SONG antreten?
Ein paar Gedanken zu einem in der öffentlichen Wahrnehmung unterschätztes sozio/politisch/kulturelles jährliches Massenexperiment:
1) Wer den ESC über die Jahre verfolgt hat, weiß, daß jedes Jahr seine eigenen Regeln hat, wie alles abschneidet, und das ist nicht vorhersehbar. Trotzdem regierte dieses Jahr das Chaos, so vorhersehbar (einerseits) und unvorhersehbar (andererseits) war es noch nie.
2) Daß die Ukraine gewinnt, stand fest, trotzdem war es überraschend, daß sie bei den Jurys
nicht durchs Dach gegangen sind. In Deutschland war es klar, daß sie 12 Punkte bekommen (jedes andere Ergebnis hätte eine Debatte über die Jurymitglieder ausgelöst), aber ich finde es spannend, daß das in nahezu allen anderen Ländern nicht so gewesen sein muß. Ich hatte den Eindruck, daß die Mehrzahl der Jurys die Ukraine wie jeden anderen Beitrag bewertet haben.
3) Vom Publikum war es klar, daß die Ukraine gewinnt, wobei der Erdrutsch schon krass ist. Durchschnittlich mehr als 11 Punkte pro Land heißt, daß sie faktisch überall 12 Punkte hatten. Das hatte natürlich Konsequenzen für das restliche Feld - ich könnte mir vorstellen, daß hinter jeden 12 Punkten roundabout 80-90% der Stimmen stand, und das bedeutet, daß all "Normalos" (die Millionen Omas, und Ballermann-Gänger, und Leute, die von ihren Familien vors TV gezerrt wurden) diesmal Ukraine wie einen Honeypot gewählt haben - und dann eben für das restliche Feld *fehlten*.
4) Auffällig ist, daß die traditionellen "melodramatischen Balladen" aus den 70ern, die *immer* fürs Mittelfeld gereicht haben, diesmal komplett in die Tonne getreten wurden. Und ich vermute, weil deren langjähriges Stammpublikum diesmal geschlossen Ukraine gewählt hat. Das größte Opfer war die Schweiz, die zwar sehr altbacken klang, aber ein extrem schönes Lied mit einer sehr guten Melodie am Start hatte, und das wurde auch ohne Gehampel sehr gut gesungen. Wenn jemand ein Ergebnis von gestern bedauern möchte, dann bitte die Schweiz und nicht Deutschland...
5) Die Theorie, daß "Rockmusik" keine Chance hat... stimmt so überhaupt nicht. Schlechte Rockmusik hat keine große Chance. Wenn mich jetzt einer fragt, welches Lied mir selbst am besten gefallen hat, dann waren es die beiden neuen Songs, die Måneskin am Ende gespielt haben. Und im Vergleich dazu waren die 4-5 Rocknummern im Teilnehmerfeld albernes Herumgehampel. Ob jetzt dieses Jahr gute Rockmusik besser abgeschnitten hätte, ist akademisch, aber schlechte, alberne oder auch nur mittelmäßige eben nicht.
6) Und jetzt noch zu zwei *wirklichen* Überraschungen. Spanien? Echt jetzt? Das war doch genau die Art von Plastik-Shakira, mit der sich Spanien jetzt seit 20 Jahren mit Deutschland um den Platz 24 prügelt. Warum lief das so gut?? Meine einzige Erklärung ist es, daß es für diejenigen "Normalos", die *nicht* Ukraine wählen wollten, die beste Alternative war. Und wenn man die Ukraine abzieht, haben vermutlich relativ wenige Stimmen für 10 und 8 Punkte gereicht.
7) Und.. Serbien! Ganz ehrlich... je öfter ich das Ding gehört habe, umso besser hat es mir gefallen. Und mit so einer Nummer auf Platz 5 zu kommen (und zwar sowohl über die Jurys als auch massiv vom Publikum obendrauf) war für mich ehrlich die Überraschung des Abends.
Ich denke, wir wurden gestern Zeugen davon, daß das Publikum (zumindest zu einem Teil) nicht wirklich so deppert ist, wie man sonst glaubt. Diese ganzen Acts, die einen auf "witzisch" gemacht haben sind (abgesehen von Norwegen) komplett in die Tonne getreten worden - von diesem Kindergarten-Cowboypunk bis zu dieser lächerlichen Parodie auf Mädelbands, bei der sich die Runaways im Grabe umdrehen.
Aber der Tante aus Serbien mit ihrem heiligen Kreuzzug für den Abschluß von Krankenversicherungen für Künstler... man nimmt ihr schlichtweg ab, daß sie gaga ist und das *ernst* meint, und wenn sie dann damit auf Platz 5 kommt, dann heißt das letztendlich: Man sollte niemals versuchen, etwas "darzustellen", von dem man sich einbildet, damit gut anzukommen.
Wer es nicht mitbekommen hat, hier ein paar Gedanken über gesunde oder kranke Geister in gesunden oder kranken Körpern:
"Artist must be healthy"... endlich spricht das mal jemand mutig aus. Von wegen "Dépressive, l'artiste, exit, exit"...
Erinnert sich jemand an Guildo Horn? Dem war damals in jeder Sekunde anzumerken, daß er das *ernst* meint... und während Klamauk sonst (damals) wirklich immer abgestraft wurde, kam er auf Platz 7 und rettete Deutschland damit sogar die nächste Teilnahme (es gab noch keine "Big 5", sondern es gab eine gemittelte Erfolgsquote).
Ob jetzt der Raab der einzige potentielle Heilsbringer ist, keine Ahnung. Aber wir fahren jetzt seit Jahren die Strategie, daß sich Deutschland so darstellen muß, wie wir uns
selber gerne sehen: Der deutsche Beitrag muß POLITISCH KORREKT sein. Irgendwie witzisch, und woke, und gender, und queer, und weltoffen, und Friede, und Freude, und Eierkuchen, und überhaupt. Melodie? Song? Stimme? Völlig unwichtig, drei Töne, ach was, zwei Töne dadadada-daah-daah, wer bitte braucht in einem Song-Contest ein Riff, eine Melodie, irgendwas zum in der Badewanne singen.
Mit einem richtigen Song gewinnen, das mögen die Italiener machen. Für Deutschland muß es reichen, jemanden aufzustellen, der "nett" ist. Und wenn der dann verliert, dann war das mit Sicherheit eine ganz böse Intrige aller anderen...
PS: Die 6 Punkte waren 2 von deutschen Touristen in Österreich, 2 von deutschen Touristen in der Schweiz, und 2 aus Estland, wo sich die Leute vermutlich auf dem Handy verdrückt haben.
