Irgendwie habe ich die Geschichte gefühlt wohl schon öfter erzählt als "Dinner for One" zu Silvester läuft, aber da es (nachvollziehbar) sehr unterschiedliche Wahrnehmungen gab, schildere ich es am Besten nochmal im Detail.
Viele Besucher hatten 2009 gar keine Probleme, und dazu zählte auch ich... am Freitag. Da hatte ich absichtlich nur ein "Holzklasse" Ticket Innenraum hinten, was ein Glücksfall war, denn auf diese Weise stand ich fast unmittelbar vor der Mittelbühne. Das war eine Geschichte für sich und hatte mit dem Chaos *vor* dem Konzert zu tun - don't get me started on this...
Nach dem Konzert war alles prima: Der hintere Innenraum wurde einfach durch die großen Tore an den Stadionecken geräumt, die gingen auf, die Menschenmassen strömten direkt ebenerdig raus, und dort war alles locker und entspannt. Ich ging in aller Ruhe zum kleineren Bahnhof La PLeine zurück, dort gab es keinerlei Gedränge, ich habe sogar noch gebummelt und etwas Merch gekauft (damals gab es offizielle Stände von Charmandizing auf dem Weg zu den Bahnhöfen) und bin in einen nicht überfüllten Zug. Alles super.
Später erfuhr ich, daß es alles andere als super war, ich hatte lediglich nichts davon mitbekommen.
Am Samstag war ich "Pelouse Or". Und das war eine andere Baustelle... Die Ausgänge an den vorderen Ecken waren blockiert, weil dort ja faktisch der Backstage-Bereich war. Also mußte die ganze Menschenmasse über die seitliche Tribüne raus - an jeweils nur einer Stelle die Treppe hoch, und auf halber Höhe durch das Ausgangsloch. Das war ein Nadelöhr und nach fünf Minuten ging dort GARNICHTS mehr. Man stand auf der Treppe unten auf der Tribüne und bewegte sich in 10 Minuten einen gefühlten Meter, während hinter einem der Mob drückte. Und den Leuten auf diesem Tribünenteil ging es natürlich nicht besser - die kamen ja gar nicht erst aus ihren Reihen raus, bis sich der Innenraum von unten die Treppe hoch vollständig geleert hatte. Es dauerte also ewig und in der Zeit kamen dann die Stadiondurchsagen: La PLeine wäre inzwischen völlig überlastet und man müsse zwingend nach SdF St. Denis. Und dort würde jetzt in einer Stunde der letzte Zug fahren, und wir sollten uns doch bitteschön jetzt mal rasch dorthin begeben.
Als ich endlich aus der Mausefalle Stadion raus war, zog sich eine endlose Karawane Richtung Bahnhof. Wobei ich da noch ziemlich weit vorne war, der Löwenanteil der Leute aus "Pelouse Or" und die komplette Tribüne war noch hinter mir. Die Karawane zog zäh durch die Straßen (sind ja immerhin 1.5km Fußmarsch) und mittendrin kam es plötzlich wieder zu einem kompletten Stillstand. Die Ursache war die zweite Mausefalle: Eine Unterführung unter der vierspurigen Straße durch - die allerdings alternativlos war, da mußten alle durch. Die Unterführung war ein schmaler Gang, der völlig verstopft war, und durch einen Rückstau am Ende immer wieder stillstand. Am Eingang drängten aber die Leute über die breiteren Treppen runter nach. Das einzige Glück (für uns alle) war, daß die Treppe zum Tunnel 90 Grad abknickte, das heißt, der Druck wurde nicht 1:1 in den schmaleren Tunnel weitergegeben. Wären die Treppen grade runtergangen, wäre das Wochenende auf völlig andere Art in die Geschichte eingegangen.
Als ich endlich auf der anderen Seite raus war (wir steckten ca. 5 Minuten, die sich wie eine Stunde anfühlten, in dem unterirdischen schmalen Gang völlig fest) hatte ich noch 10 Minuten bis zum allerletzten Zug. An der Stelle habe ich dann etwas Dummes gemacht... Da ich ja ohnehin einen Schutzengel in der Röhre gehabt hatte, sprang ich über den Bordstein auf die Fahrbahn (wo nur wenige Autos waren, die alle ängstlich fuhren, wegen der sichtbaren Karawane am Rand) und rannte im Rahmen meiner restlichen untrainierten Puste an der schleichenden Karawane vorbei. Am Bahnhof war ich dann 8 Minuten vor Ultimo, und dort stand allen Ernstes ein Menschentrichter vor den Automaten, weil der Fahrpreis auch nicht im SdF-Ticket enthalten war. Das waren ja fast "deutsche" Zustände in Sachen Obrigkeit. Daneben sprangen Leute einfach über das Drehkreuz, ich sprang mit und kam exakt 6 Minuten vor Ultimo in den vorletzten Zug. Und der war *kaum* überfüllt - schon voll, alle Sitze belegt, aber kaum weitere Leute im Stehen. Es kamen einfach nicht genug Leute rechtzeitig auf den Bahnsteig, um die Züge zu überfüllen.
Im Nachgang wurden die Ereignisse des Wochenendes durchaus in der Presse erwähnt, geschätzt wären "20.000-30.000 Leute" gestrandet und die meisten wären dann die ganze Nacht durch zu Fuß Richtung Paris Zentrum gelaufen. Und ein paar Wochen vorher wäre es bei einem U2 Konzert mit deutlich weniger Zuschauern ebenso passiert, damals waren es "10.000-15.000" Leute.
Die Verantwortlichen auf jeder Ebene (Stadion, Polizei, lokaler Veranstalter, Farmers Management, Bahn) waren einfach mit der gesamte Veranstaltung überfordert gewesen. Bzw. war das Stadion ausschließlich auf Sport und *nicht* auf Großkonzerte konzipiert. Bei Sport sind nur die Tribünen besetzt, und nach der Veranstaltung entleert sich das Stadion gleichmäßig. Die ersten gehen 10 Minuten vor Ende, die letzten bleiben noch eine Stunde und feiern. Durch die gleichmäßige Entleerung kommen alle streßfrei zu den Bahnhöfen und die Züge werden gleichmäßig befüllt.
Hier waren es aber erstmalig 80.000 Zuschauer pro Tag, das Stadion war noch *nie* für ein Konzert so voll (das Maximum vorher war 60.000, auch schon zu viel). Durch die Idiotie mit den Ausgängen über die Tribüne kam ein kleiner Teil der Zuschauer streßfrei und rasch raus, und die Züge waren in der ersten Stunde danach beinahe leer. Das war mein Freitag, und wohl auch für alle Tribünenleute, die nicht in den Blocks für "Pelouse Or" saßen.
Aber der Rest, roundabout 30.000-40.000 Leute, steckte erst über eine Stunde in den beiden Nadelöhren fest und hatte danach überhaupt keine Chance mehr. Und auf die Idee, wenigstens Sonderzüge die ganze Nacht laufen zu lassen, war auch niemand gekommen.
Und jetzt erzähle ich auch noch den "Nachgang". Im März 2010 war ich mit einer Produktion in Saarbrücken und plauderte am Nachmittag dort mit einem erfahrenen alten Tourleiter, der sonst für große deutsche Veranstalter arbeitet und u.A. vor Ort auch für die Organisation der Security verantwortlich ist (das Gespräch vergesse ich schon deshalb nicht, weil ich dort Backstage einen von zwei Transi bei Amazon bestellt habe, der grade freigeschaltet wurde... den bekam ich dann später komplett zerdeppert...).
Ich erzählte ihm die ganze Situation im Stade de France, weil mich seine Einschätzung interessierte. Er hörte es sich interessiert aber mit wenig überraschter Miene an, und dann sagte er wörtlich (das vergesse ich mein Leben lang nicht): "Das kennen wir aus Frankreich alle, die warten nur darauf, daß es Tote gibt!".
Vier Monate später mach in den Fernseher an und sehe die Bilder aus Duisburg...
Nun - ich denke NICHT, daß wir Angst haben müssen. Bercy 2013 hat mehr als eindrucksvoll bewiesen, daß sie GELERNT haben. Der Einlaß in den Innenraum war mustergültig, ich habe noch nie so einen Aufwand erlebt (personell wie organisatorisch) um Leute gefahrlos zu bewegen. Es dauerte dafür auch Stunden und man kam sich vor wie Raubkatzen im Zirkus, die in diesen Röhren mit Sicherheit-Schotts in die Arena gebracht werden.
Ich hoffe auch mal irgendwie, daß das Verkehrskonzept in den 14 Jahren verbessert wurde. Wobei ich nie wieder in diese Unterführung steigen würde, dann lieber noch einen größeren Umweg außenrum laufen...
Aber ich würde auch nie mehr das Risiko eingehen, überhaupt in diese Situation zu kommen, auch wenn die Hotels dort teuer und evtl. touristisch für die Folgetage nicht so der Brüller sind... meine 4 Pfennige.