Lars von Trier und "Nymphomaniac"

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MartinC
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Lars von Trier und "Nymphomaniac"

Ungelesener Beitrag von MartinC »

Was das klassische "Was will uns der Dichter sagen?" angeht, Antworten wirst Du von Trier generell nicht bekommen, denn wenn er auf irgendetwas eine Antwort hätte, würde er keinen Film darüber machen. Das wohl bekannteste Zitat von ihm, in seinem gewöhnungsbedürftigem Humor, lautet nicht zuletzt "Ich hoffe, eines Tages psychisch gesund genug zu sein, keine Filme mehr drehen zu müssen"...

Was man aus seinen Filmen ziehen kann, ist immer rein persönlich und nicht allgemein, weshalb ich maximal sagen kann, was ich selber mit ihm anfange...

Das erwähnte "Melancholia" ist für mich auch nicht der ergiebigste Film, wobei man die Frage "um was es geht" hier relativ klar und allgemeinverbindlich beantworten kann, nämlich um die Angst vor dem Tod. Der Teil, mit dem ich das meiste anfangen kann, ist das Finale mit dem Psychogramm der beiden ungleichen Schwestern (wobei ich hier finde, daß Kirsten Dunst nicht wirklich gleichberechtigt mithalten kann). Ich finde den Film trotzdem nicht schlecht, allein für die Überraschung, daß mich der allumfassende "Tod", der hier ja nun wirklich der TOD ist, mehr emotional bewegt, als ich mir als alter abgeklärter Zyniker selbst eingestanden hätte. Die Sequenz, ganz am Anfang, geht mir ans Eingemachte, auch wenn es nichts als handwerklich solide altmodische Special Effects sind.

Was "Nymphomaniac" angeht, eine ausformulierte "Botschaft", die man mit nach Hause nimmt, hat er nicht, aber der Teil mit dem "Was der Dichter sagen will" hat mich schon immer wenig interessiert - wenn er irgendwas sagen will, wie "Seid nett zueinander", warum sagt er es nicht und gut ist.

Was der Film mir bringt, hab ich eigentlich oben schon skizziert, es geht um das "Warum?" das ständig gefragt wird, wenn mal wieder etwas passiert. Jemand fliegt ein Passagierflugzeug in die Berge. Jemand erschießt Menschen in der Kirche. Und dann die Nachrichten "Schrecklich, Schrecklich" und "Warum?". Und die gegebene Antwort ist immer entweder rational (für eine Religion, für eine Politik, aus Habgier oder anderen niederen aber logischen Gründen) - und wenn es nichts von dem ist, dann ist es eine Geisteskrankheit.

Bei dem Flugzeug hat uns alle etwas verstört, daß die "Geisteskrankheit" gar nicht so massiv erschien, aber jetzt heißt es, er hätte seine Medikamente abgesetzt, und schon ist es wieder eine wunderbar rationale Katastrophe mit Unfallcharakter.

"Nymphomaniac" ist das Psychogramm von völlig normalen und (in diesem Sinne) gesunden Menschen. Sie sind gebildet, sie sind rational, sie verhalten sich logisch, sie sind moralisch (bevor jetzt einer einspricht: Speziell Joe ist eine hochmoralische Frau, es mag nicht die Moral der Gesellschaft sein, aber sie verhält sich nach dem wichtigsten Prinzip der Moral, bei ihr auch dann zu bleiben, wenn sie gegen ihre Interessen und Gefühle steht). Es gibt in dem Film keine Katastophe von außen, keine Tragödie in der Familie, keinen "Auslöser" für irgend einen Sturz. Geistig, moralisch, intellektuell bestens ausgestattete Menschen begeben sich in einen konstruktiven, positiv geprägten Tanz, und am Ende wandern sie in einen Abgrund, *ohne* daß eine der oben unter "Warum?" genannten Kriterien erfüllt werden.

Wenn Du so willst, ist *das* für mich die "Botschaft", die er mir vor Augen führt. Wenn Du glaubst, das passiert nur anderen Menschen, die zu dumm, oder zu verblendet, oder zu krank, oder zu irrational sind - "träum weiter". Der Abgrund kann jetzt schon in Dir sein, ohne daß Du merkst, daß Du in ihn hineintanzt, und ohne daß es jemand merkt, der neben Dir steht.

Bei der "Timeless" Besprechung hab ich mich ja bei "Je t'aime melancholie" in diese Metapher gestürzt, die leuchtende Zivilisation oben und die marodierenden Höllenmaschinen unten, und dazwischen eine gefährlich dünne Kruste. "Nymphomaniac" ist eine präzise mit dem Rasiermesser herausgedrechselte Darstellung, daß die Kruste nochmal viel dünner ist, als in dem Bühnenbild.

Insofern halte ich "Nymphomaniac" auch für deutlich verständlicher, als z.B. "Dancer in the Dark", wo die Hauptfigur Selma im Prinzip aus einem Märchen stammt, eine skandinavische Mischung aus "Sterntaler" und dem "Mädchen mit den Schwefelhölzern". Der Film hat psychologisch kaum einen Anker in der Realität, es ist das Psychogramm des Sterntalermädchens in der modernen westliche Zivilisation. Die meisten Zuschauer werteten den Film wohl primär als Plädoyer gegen die Todesstrafe und nehmen das dann als Botschaft, aber wenn es nur darum ginge, wäre und ist jeder emotionale Mainstreamfilm von der "Kammer" bis zu was-auch-immer effektiver.

Der "Schlüssel" für diesen Tanz in den Abgrund ist die Verwandlung von Seligman, die er selbst nicht bemerkt, Joe nicht bemerkt, und (bedingt) der Zuschauer am wenigsten. Und da hab ich nach der Kritik von Thomas gemerkt, daß der Kinoschnitt auch einen Vorteil hat - dort fehlt die komplette Geschichte mit der Abtreibung. Statt dessen mag Joe plötzlich keine Psychater, und Seligman ist darüber leicht frustriert und nimmt es zur Kenntnis. Mit der Szene wird aber klar, daß mit Seligman etwas vorgeht. Die Vergewaltigung im Zug im ersten Teil nimmt er, der Humanist, als Advocatus Diaboli einfach so hin, aber über die Abtreibung bekommt er plötzlich eine Krise. Damit ist klar, daß ihm Joe plötzlich nicht mehr egal ist, sondern er anfängt, ihre Taten persönlich zu nehmen. Aber das merkt er selber nicht, so wenig wie Joe, und so kommt es zu der Situation am Ende, daß beide völlig aneinander vorbeireden und er gar nicht merkt, welche Konsequenz sein verändertes Ich für sie hat. Dieser "Tanz" der beiden Identitäten, die zu dieser fatalen Situation führt, in der Präzision, wie sie erklärt wird, ist das, was mich an dem Film erschüttert und fasziniert. Und ich wüßte nicht, wie und wo man das hätte kürzer machen können, ohne irgendwann auf Erzählmodus zu schalten und einfach "als "Film" zu behaupten, eine oder beide Protagonisten wären jetzt halt plötzlich anders.

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